Die Dame an der Treppe ist eine alte Dame. Keine ältere Dame, sondern eine wirklich alte Dame. (Ist es nicht seltsam, dass ältere Damen im Deutschen üblicherweise jünger sind als alte?)
Die alte Dame trägt schwer am Alter und an den Einkaufstaschen. Zum nächstgelegenen Lebensmittelgeschäft fährt sie zwei Stationen mit der U-Bahn. Ob sie jemals ein Auto besessen hat, weiß ich nicht. Ob sie, besäße sie jetzt noch eines, immer noch fahren könnte oder auch nur wollte, weiß ich auch nicht. Wenn ich sage „sie trägt schwer“, dann meine ich nicht, dass die Last der Jahre und der Taschen sie beugt. Trotz ihres Alters ist diese Dame eine kräftige Dame, die wahrscheinlich in jüngeren Jahren ganz andere Lasten getragen hat. Man sieht das an der Art, wie sie den Rücken hält und auch Hüften und Oberschenkel mittragen lässt. Die meisten anderen Leute benutzen zum Tragen nur Arme und Hände und wundern sich, wenn sie ihnen lahm werden.
Am Fuß der Rolltreppe bleibt sie stehen. Es ist eine Rolltreppe, die je nach Bedarf die Richtung wechselt. Meist stehen unten alte Damen mit schweren Einkaufstaschen oder müde Mütter mit Kinderwagen und warten, dass die Rolltreppe frei wird und sie nach oben fahren können. Aber immer wieder kommt eine junge Dame mit einem winzigen Handtäschchen oder ein junger Herr mit leeren Händen oder jemand mit nichts als einem Smartphone in den Händen ganz gemütlich abwärts gefahren, als gäbe es keine müden Mütter und alte Damen am Fuß der Treppe. Die alten Damen geben schließlich auf und schleppen sich und ihre Einkäufe die andere Treppe, also die, die nicht rollt, hinauf. Die müden Mütter sehen sich um, ob da niemand ist, der ihnen hilft, den Kinderwagen die andere Treppe hinauf zu tragen.
Die alte Dame hat an vielen Orten gelebt, mehr als einen Namen getragen und mehr Sprachen gesprochen als die meisten in ihrem Leben zu lernen versuchen. Sie kennt, da bin ich sicher, fast alle Varianten der Unhöflichkeit. Sie ist alt genug, um zu wissen, dass sogar die sorglosen jungen Menschen, die mit den Smartphones und den winzigen Handtäschchen, eines Tages alt sein werden. Wenn sie Glück haben. Wenn sie kein Glück haben, sterben sie früh und haben nichts gelernt und nichts gewusst, nicht einmal, dass es möglich ist, Rücksicht auf einander zu nehmen.